Freie Sicht



Unser Nachbar erzählte letztens, dass er seiner Freundin Kopfhörer aufsetzt, wenn er auf die Toilette geht. Die Romantik ist bei uns verflogen. Na gut, Kopfhörer habe ich auch nie aufbekommen, aber wir haben zumindest die Privatsphäre des Anderen  auf dem Örtchen geachtet. Spätestens seit der Geburt von Wirbelwind ist das aber vorbei. Mein Freund ist abgehärtet, schließlich hat er gesehen, wie ein Baby aus mir herauskam, in ALLEN Details, wie ich hinterher erfahren habe!! Also bin ich als geheimnisvolles weibliches Objekt der Begierde sowieso abgeschrieben. Aus der Romantik wurde Pragmatismus. Es ist deutlich zeitsparender, wenn man gleichzeitig im Bad ist. Der eine verrichtet sein Geschäft, der andere putzt sich die Zähne und was sonst noch so ansteht. Privatsphäre gibt es nicht mehr zwischen uns, sondern nur noch zu den anderen Menschen da draußen.
Aber auch die Fassade bröckelt mit der Zeit. Beim Bloggen kann ich zumindest selbst bestimmen, wie viel ich Preis gebe. In anderen Situationen nicht. Das fängt an bei Ausflügen, wenn ich meine Ängste, meine Wut oder Freude laut auf die Straße hinaus brülle, weil ich dem Wirbelwind hinterherrufe. Es ist ein Stückchen Selbstoffenbarung. OK, auch das habe ich vielleicht noch in der Hand. Ich könnte ja auch wortlos hinter ihr her rennen, um sie wieder einzufangen oder in der Hoffnung sie zu erreichen, bevor sie den Eisstiel, den sie im Sand gefunden hat, aufgeknabbert hat.
Aber dann gibt es die Momente, die ich nicht in der Hand habe, in denen ich mich im wahrsten Sinne des Wortes bloßstelle. Letztens lag ich morgens mit Wirbelwind zum Kuscheln im Elternbett. Irgendwann wurde es ihr zu langweilig und sie fing an die Schubladen des berühmten Nachtschränkchens zu durchsuchen. Sie wurde fündig. Dann hörte sie den Hund des Nachbarn und flitzte zur Wohnungstür und öffnete sie (ach Mist, das kann sie ja auch schon!). Als ich abgehetzt ankam, stand sie interessiert im Hausflur, zeigte auf Hund und Frauchen (die Frau, die die Kopfhörer aufgesetzt bekommt, wenn der Freund aufs Klo geht), rief „wau wau“ und spielte gleichzeitig mit ihrem Mitbringsel aus der Schlafzimmerschublade. Mit rotem Gesicht entzog ich ihr letzteres, verabschiedete mich höflich, zog Wirbelwind in den Flur zurück und schnellstmöglich die Tür. Peinlich.
Ein anderes Beispiel hat auch mit dem „Türöffnen“ zu tun. Unser Bad liegt direkt gegenüber vom Wohnzimmer. Wenn ich auf die Toilette gehe, reicht es eigentlich, wenn ich die Badtür schließe, dann kann ja niemand hineinsehen. Doch da habe ich nicht die Rechnung mit Wirbelwind gemacht. Denn sie will ja wissen, was ich da im Bad so alleine treibe. Eigentlich weiß sie es, das hindert sie aber nicht daran mir dennoch hinterher zu stapfen. Und die Badtür steht dann sperrangelweit auf. Blöd nur, wenn ich die Wohnzimmertür offen gelassen habe, dann können unsere lieben Nachbarn nämlich direkt ins Örtchen schauen. Ich will ja niemandem etwas unterstellen, aber es könnte ja zufällig jemand einen Blick in unser Reich werfen. Und dann sitze ich da auf der Toilette, mit heruntergelassenen Hosen, wild gestikulierend, dass Wirbelwind doch bitte endlich die Tür wieder schließen möge. Heute hatte sie es auch tatsächlich getan! Komischerweise funktioniert es aber nicht, wenn ich unter der Dusche stehe. Dann guckt sie mich völlig entgeistert an, was ich denn von ihr wolle. Nach fünf Minuten Gebrülle ist alle Wärme in den Flur entschwunden, Wirbelwind spielt im Kinderzimmer und ich tapse nackig und frierend über die Fliesen, um die Tür mit einem lauten „Wumps“ zuzuschmeißen.
So kann der Tag beginnen...

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