Ich bin neidisch auf meine Kinder

In letzter Zeit schaue ich immer öfter auf meine Kinder, gerade auf Wirbelwind, und bekomme dieses beklemmende Gefühl. Sie ist nun fast vier Jahre alt. Ein so schönes Alter. Ein Alter, an das ich mich auch bruchstückhaft zurück erinnere. Ein Alter, in dem noch alles möglich ist. Ein Alter, das noch so unbeschwert ist. 
Und das Ziehen in meiner Brust wird stärker. Mit jeder Hautfalte, mit jedem grauen Haar, mit jedem Stich im Knie, im Rücken, im Zahn. Ich bin neidisch, auf die Jugend und die Möglichkeiten. Gerne wäre ich nochmal jung mit dem Wissen und der Vernunft meines jetzigen Ichs. Würde das gut gehen? Würde es anders werden? 


Sehnsucht nach Unbeschwertheit

Jeden Morgen, wenn ich Wirbelwind in den Kindergarten bringe, laufen wir an einer Schule vorbei. So viel junge Menschen. So herrlich naiv. Sie haben Probleme, die eigentlich gar keine sind. Doch das ist ihre kleine Welt. So unbeschwert. Klar, sie müssen den ganzen Vormittag die Bank drücken und nachmittags womöglich Hausaufgaben machen. Doch sie haben auch so viel Freizeit. 
Ich erinnere mich an meine Schulzeit zurück. Nur wenige Erinnerungen liegen davon im Klassenraum. Die meisten anderen finde ich in verwaisten Häusern, die es nach der Wende bei uns zu Hauf gab und einen perfekten Spielort boten. Oder ich sehe mich auf dem Schulhof Ball spielen, oder auf den autoleeren Straßen. Oft waren wir mit dem Nachbarskind im verwilderten Garten gegenüber und haben uns im Gartenhäuschen unser eigenes kleines Reich geschaffen. Oder wir haben Katzen gefüttert. Manchmal haben wir auch Styropor angemalt und versucht an Passanten zu verkaufen, ohne Erfolg versteht sich. Wir sind auf Kirschbäume geklettert und haben stundenlang auf Spielplätzen herumgehangen. 
Doch zum Abendbrot waren wir immer zu Hause. Verdreckt und glücklich. Frei. Wir waren ganz bei uns. Keine Miete, die zu bezahlen war. Keine Verantwortung für andere, nur für uns selbst. 
Rückblickend war es eine sehr schöne Zeit. Nur war mir das damals nicht bewusst. Vielleicht hätte ich es ganz anders genossen.

Nun darf Wirbelwind diese Zeit erleben. Sie darf auf Kirschbäume klettern und Bastelware verscherbeln, wenn sie denn möchte. Sie darf sich auf dem Spielplatz austoben und abends verdreckt und glücklich heimkehren. Sie darf mit ihren Freunden Ball spielen, bis die Scheiben bersten (ups, auch das haben wir getan). Sie darf Kind sein. Und ich hoffe, dass ich ihr genau dies ermöglichen kann. Ich hoffe, dass sie später einmal auf ihre Kindheit zurückschaut und denkt: es war eine schöne Zeit, ich sehne mich dort hin zurück. 

Wehmut. Das trifft es wohl ganz gut. Ich bin wehmütig. Es war eine schöne Kindheit, obwohl wir nicht viel hatten. Aber das braucht es auch nicht. Es war schön. Und das macht mich gleichzeitig so traurig, weil mehr als Erinnerungen und ein paar vergilbte Fotos nichts geblieben ist. Und mit jedem Tag, der verstreicht, werden die Erinnerungen mehr verblassen.  

Alles auf Anfang

Die Sehnsucht nach Unbeschwertheit ist wohl nur eine Seite der Medaille. Worum ich Wirbelwind wohl auch beneide, ist die Zahl der Möglichkeiten, die ihr noch bevorstehen. Mein Leben ist inzwischen in Bahnen, die kaum noch verrückbar erscheinen. Mann und Kinder sind gesetzt, jetzt kann ich nur noch drumherum basteln. Das Studium ist beendet und die berufliche Richtung damit vorgegeben. Änderungen würden nun einen erheblichen Kraftaufwand bedeuten, die damals, nach der Schule, mit einem Achselzucken angegangen werden konnten. Ich trage viel Ballast mit mir herum. Versteht mich nicht falsch, es ist sehr schöner Ballast, aber eben dennoch Ballast. Ein Sammelsurium aus Liebe, Verantwortung, Verpflichtungen, Erinnerungen, Abhängigkeiten. 

Alles auf Anfang setzten möchte ich nicht. Über einige Entscheidungen, die ich getroffen habe, bin ich froh. Allerdings nicht über alle. "Was wäre wenn" Eine wirklich fiese Frage, da sie niemals zufrieden stellen kann. Sie wühlt nur auf, verunsichert und macht unglücklich. Ich weiß das. Aber stellen muss ich sie mir dennoch immer wieder. 

Und so frage ich mich: Wenn alles in meinem Leben so gelaufen wäre, wie ich es mir erhofft hatte, dann wäre ich jetzt vielleicht nicht neidisch. Dann wäre ich mit mir selbst mehr im Reinen. Dann wäre ich vielleicht auch nicht neidisch auf meine Kinder. Nur eines wäre dann auch gewiss: es wären andere Kinder. Und das macht mich wieder ein bisschen mehr zufriedener mit dem, was ich jetzt habe.

Eure Wiebke

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